Neuerscheinung

Der Mann, den er nicht kannte


Leseprobe

Ole geht ins Bad, wäscht sich die Hände, schaut in den Spiegel. So schlecht sieht er doch nicht aus, sein Mund gefiel ihm schon immer, voll und doch leer, er spricht die Mädchen nicht an. Flüchtig kämmt er sein Haar, dunkel, passend zu den Augen. Auch mit seiner Größe ist er zufrieden, allzu groß wäre unbequem.

 

Mit einem Glas Mineralwasser geht er auf die Terrasse ohne Sonnenschirm, rückt einen zerschlissenen Liegestuhl zurecht, hat das Comic vergessen, geht in sein Zimmer. Ein Zettel von seiner Schwester, komme noch mal vorbei, hast Du Lust zu joggen? Lefke. Überraschend, eine Aufforderung von ihr, etwas gemeinsam zu machen. Er weiß – wann dieses noch mal sein sollte, bleibt ungewiss. Mal vermisst er ihre pragmatischen Antworten, ein andermal denkt er ganze Tage kaum an sie. Als sie vor ein paar Monaten zu ihrem Freund zog, verspürte er einen bitteren Beigeschmack, jetzt wird er den Kummer der Mutter allein auffangen müssen. Lefke scheint glücklich, egal, dass ihr Freund dreißig Jahre älter ist und ständig zum Arzt rennt. Dennoch – er ist vermögend, woher, darüber spricht sie nicht.


Noch heute erdrückt ihn der Gedanke an die Auftritte des Vaters, jede Kleinigkeit brachte ihn aus der Fassung. Und so was ist Pastor! Wie gut hat sich das gefügt, das Erbe der Großeltern, das Leben in ihrem Haus, dem Vorort einer „norddeutschen Großstadt“. Ein wenig lächerlich, von Großstadt zu reden, dort gibt es nicht mehr als in ihrem Nest. Aber es wohnt sich schön, wenn auch nicht allzu geräumig, der Garten reicht für ein paar Obstbäume, Gemüsebeete und eine kleine Blumenwiese. Nein, sie brauchen ihn nicht, den Patriarchen. Geradezu genossen hat er seinen Umzug ins Pfarrhaus, nur selten kommt er mal vorbei – ein Pseudo-Familienvater nach seinem Gusto – er bestimmt, wann er erscheint. Ole stört das wenig, so bleibt er verschont von lästigen Fragen, wie sich der neue Wagen fährt, was die Praxis macht. Was soll sie schon machen. Lefke hat den Absprung geschafft, sie hat sich seinem Diktat entzogen. Dennoch wollte Ole nicht mit ihr tauschen.


Er lässt ihren Zettel auf dem Schreibtisch liegen, schaut im Zimmer umher, als wäre er Gast hier. Eine riesige Landkarte über eine ganze Wand, befestigt mit Tesa und Reißnägeln, ein Regal voller medizinischer Fachbücher. Bücherverbrennung – manchmal kann er diese Untat nachfühlen. Warum hat er sich das nur gefallen lassen, den Druck des Vaters, Medizin zu studieren. Warum hat er sich nicht durchgesetzt und Musik studiert?


Auf unterem Regal vier seiner Spielzeugautos, heute womöglich etwas wert, ein Poster von Einstein – das Poster, das alle haben, der Schreibtisch, großflächig und massig. Der musste etwas aushalten über die Jahre endloser Kasteiung – alles nur zu seinem Besten. Auch ein Bett, ein bequemes Bett, das Plumeau mit Daunen, ausgesucht von der Mutter und pünktlich in kurzem Turnus überzogen. Nichts hier ist von ihm, nichts, was nicht jeder hat. Da ist noch die ausrangierte Stereoanlage von Simon, die Boxen auf dem Boden, Platzmangel  …


                                                                        

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Herausgeber: Dr. Rudolf Huber

Foto: Gisela Janocha

Lektorat: Katharina Maier

www.katharina-maier.de

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Herstellung und Verlag: BoD, Nordersted